Trendmagazin Nr.4
Reisen für Alle - Barrierefreiheit im Tourismus© NatKo
Trendmagazin Nr.4
Reisen für Alle - Barrierefreiheit im Tourismus© NatKo
Barrierefreiheit ist für viele ein abstrakter Begriff – was sich alles dahinter verbirgt, ist wahrscheinlich den wenigsten bewusst. Oft fällt uns erst auf, dass etwas nicht barrierefrei ist, wenn wir selbst betroffen sind, etwa weil wir mit gebrochenem Bein oder Kinderwagen vor einer Treppe stehen, im Restaurant unsere Lesebrille vergessen haben oder im Zug die Durchsage nicht richtig verstehen.
Es gibt also auch heute leider noch viele Situationen, in denen wir uns Barrieren gegenübersehen. Dabei gewinnen barrierefreie Lösungen gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels immer mehr an Bedeutung. Denn mit dem Anstieg des Durchschnittalters und der Lebenserwartung steigt auch der Anteil der Menschen, die mit Einschränkungen leben, da Beeinträchtigungen im fortgeschrittenen Alter häufiger auftreten können. Es wird daher in Zukunft auch immer mehr Menschen geben, die auf barrierefreie bauliche oder technische Angebote angewiesen sind.
Das gilt natürlich auch im Tourismus, denn ältere Menschen sind heute deutlich aktiver und mobiler als sie es noch vor wenigen Jahrzehnten waren. Doch ganz davon abgesehen brauchen nicht nur ältere Menschen barrierefreie Lösungen, auch für andere Gruppen ist Barrierefreiheit unverzichtbar, etwa für Familien mit Kindern, Menschen mit Behinderungen, Menschen, die chronisch krank oder zum Beispiel nach einer Operation vorübergehend eingeschränkt sind, oder ausländische Gäste, die kaum Deutsch verstehen.
Unser Anliegen in Nordrhein-Westfalen ist es, jedem das Reisen durch unser spannendes Land zu ermöglichen, ohne jemanden auszuschließen. Für das aktuelle Trendmagazin haben wir daher viele Anregungen zusammengetragen, wie dies – oft sogar ohne großen Aufwand – gelingen kann.

Geschäftsführerin Tourismus NRW, Dr. Heike Döll-König
Das Magazin im Überblick:
© Dominik Ketz, Tourismus NRW e.V.
Barrierefreiheit – Neue Dringlichkeit in Zeiten des demografischen Wandels
Was bedeutet Barrierefreiheit eigentlich? Theoretisch bedeutet Barrierefreiheit erst einmal, dass ein Angebot für jeden eigenständig und ohne fremde Hilfe nutzbar ist. Doch was sich so einfach anhört, ist in der Umsetzung deutlich komplexer. Denn für jeden Menschen können andere Dinge Barrieren darstellen: Wer auf einen Rollstuhl angewiesen ist, wird nicht durch die schmale Tür ins Restaurant passen. Wer allergisch auf Hausstaubmilben reagiert, wird das kuschelige Hotelbett mit der dicken Daunendecke nicht Wert schätzen können, und wer nicht lesen kann, dem wird die dicke Hotel-Mappe mit den vielen wichtigen Informationen und Ausflugsideen für die Umgebung nicht weiterhelfen.
Eine barrierefreie Umwelt erfordert also Lösungen für ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Doch die Auseinandersetzung mit dem Thema lohnt sich. In einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums heißt es treffend:
„Eine barrierefrei zugängliche Umwelt ist für etwa zehn Prozent der Bevölkerung zwingend erforderlich, für etwa 30 bis 40 Prozent notwendig und für 100 Prozent komfortabel.“
Der Bedarf an barrierefreien Angeboten ist also eindeutig gegeben. Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Ziel der gesellschaftlichen Inklusion ist es sogar dringend geboten, Angebote entsprechend zu gestalten.
Barrierefreier Tourismus birgt immenses wirtschaftliches Potenzial
Für Anbieter besteht jedoch nicht nur die gesetzliche oder zumindest moralische Pflicht zur Inklusion, es lohnt sich auch finanziell, in ein barrierefreies Angebot zu investieren. 2014 ließ die EU die ökonomische Bedeutung und Reisemuster im barrierefreien Tourismus in Europa untersuchen. Das Ergebnis der Studie: Der Ausbau an barrierefreien Angeboten könnte in Europa zusätzliche Milliardeneinnahmen generieren und Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen. Voraussetzung wäre allerdings, dass nicht nur physische Barrieren abgebaut, sondern auch Service und Informationspolitik verbessert werden.
Der Studie zufolge sorgten allein ältere Gäste und Menschen mit Behinderung aus den EU-Mitgliedsstaaten mit ihren Reisen für einen Gesamtumsatz von rund 786 Milliarden Euro jährlich. Dazu kommen noch einmal 34 Milliarden Euro, die durch behinderte Menschen und ältere Gäste aus den elf wichtigsten Nicht-EU-Quellmärkten generiert werden. Dadurch ergibt sich eine Gesamtsumme von 830 Milliarden Euro.
Das Potenzial liegt laut Studie jedoch noch weit höher. So könnten sich nach Berechnungen der Untersucher bei einer günstigen Entwicklung 2020 Einnahmen in Höhe von über 1,1 Billionen Euro erzielen lassen. Umgerechnet auf Arbeitsplätze würde dies einen Anstieg von 9,24 Millionen im Jahr 2014 auf 13 Millionen 2020 bedeuten.
Ältere Menschen als attraktive Zielgruppe
Gerade der demografische Wandel dürfte die Nachfrage nach passenden Angeboten weiter steigen lassen. Laut GfK TravelScope 2004 – 2009 erhöhte sich allein im Untersuchungszeitraum der Anteil der Reisenden über 60 Jahre an der Gesamtzahl der Reisenden von 22,3 auf 23,5 Prozent. Beim Umsatz zeigt sich zudem, wie kaufkräftig gerade die Gruppe der älteren Reisenden ist: Ihr Anteil am generierten Umsatz stieg im gleichen Zeitraum von 27,2 auf 28,8 Prozent, bei Deutschlandreisen sogar von 31,8 auf 33,5 Prozent. Dies lag vor allem auch daran, dass Jüngere eher Kurzreisen in Deutschland unternehmen, während bei den Älteren lange Reisen mit 52 Prozent in der Überzahl waren.
Probleme in der Kommunikation
Angesichts der sich abzeichnenden weiter steigenden Nachfrage nach barrierefreien Angeboten in Deutschland ergeben sich zwei Folgerungen: Zum einen bedeutet dies, dass entsprechende Angebote geschaffen werden müssen, zum anderen aber auch, dass entsprechende Angebote kommuniziert werden müssen. Dies ist bislang oft nicht der Fall. So gaben etwa bei einer Umfrage des Cologne Convention Bureau und des Europäischen Instituts für Tagungswirtschaft 2015 rund 74 Prozent der Betriebe an, teilweise barrierefrei zu sein. Weitere 17 Prozent waren nach eigener Auskunft sogar vollständig barrierefrei. Auf der eigenen Internetseite informierten jedoch nur gut 36 Prozent über ihr barrierefreies Angebot.
Ähnliches gilt für Betriebe, die sich nach dem deutschlandweit einheitlichen „Reisen für Alle“-System haben prüfen lassen. Auch hier nutzen viele die Ergebnisse nicht, um ihre Gäste über ihre barrierefreien Angebote zu informieren.
Gerade ältere Gäste und Gäste mit Behinderung benötigen vor ihren Reisen jedoch Planungssicherheit. Wer ihnen also die notwendigen Informationen zur Verfügung stellt, verschafft sich durch den geleisteten Informationskomfort einen Wettbewerbsvorteil.
Diese These wird auch von der bereits erwähnten EU-Studie gestützt. Den hierfür Befragten ist es nicht nur wichtig, Barrieren vor Ort abzubauen, sondern auch, sich bereits vor der Reise über barrierefreie Zugänglichkeiten informieren zu können.

Ganzheitliche Strategien gefordert
Genauso wichtig ist es, ineinandergreifende barrierefrei Angebote zu schaffen. Denn kein Gast wird während seiner Reise nur die Angebote seines barrierefreien Hotelzimmers nutzen, sondern auch Ausflüge in die Umgebung machen wollen. Dies bedeutet, dass die gesamte Servicekette barrierefrei gestaltet werden sollte, von der Anreise über die Unterkunft bis zu Freizeitaktivitäten.
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels sollten dabei vor allem auch barrierefreie Wanderwege und Radangebote geschaffen werden. Denn laut GfK TravelScope 2008/09 ist es älteren Reisenden besonders wichtig, sich von Landschaften und der Natur beeindrucken zu lassen, sodass hier entsprechende Angebote benötigt werden. Hierbei wie auch bei allen anderen barrierefreien Angeboten gilt natürlich: Sie sind nicht nur für Touristen, sondern auch für die Einheimische nützlich und komfortabel – gerade in Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland, gibt es somit auch bereits ohne Touristen eine große Nachfrage.
Lösung für Alle statt Spezialangebot
Dass barrierefreie Angebote nicht nur für Nutzer, sondern auch für die Betriebe selbst einen Mehrwert bringen, haben viele Unternehmen und Einrichtungen inzwischen erkannt und entsprechende Angebote entwickelt. Bislang wurden oft jedoch Sonderlösungen für mobilitäts- oder aktivitätseingeschränkte Menschen geschaffen. Das Kompetenznetzwerk Design für Alle macht sich hingegen für eine andere Herangehensweise stark: Es setzt sich für einen nicht-stigmatisierenden Barrierefrei-Ansatz ein, der mit Komfort und Attraktivität für alle verbunden wird. Sein Ziel ist es, Barrierefreiheit, Nutzbarkeit und Erlebbarkeit für möglichst alle Menschen zu erreichen, ohne Nutzer durch Speziallösungen auszugrenzen.
Ein Beispiel für diesen Ansatz sind Rampen, die nicht nur mit dem Rollstuhl, sondern auch mit Rollatoren, Kinderwagen, Gehstock, Rollkoffer oder Fahrrad genutzt werden können. Ebenfalls komfortabel für alle sind niedrigflorige Teppiche und rutschfeste Bodenbeläge. Sie helfen, Stürze zu vermeiden, und ermöglichen ein gutes Vorankommen mit Rollstuhl, Koffer oder Kinderwagen. Ganz nebenbei sind sie auch noch robuster und leichter zu reinigen. Nach dem Prinzip des Designs für alle wäre es zudem wünschenswert, beispielsweise zur Standardführung bei Bedarf einen Gebärdensprachdolmetscher hinzuzuziehen, anstatt eine eigene Führung in Gebärdensprache anzubieten.
Der Ansatz des Kompetenznetzwerks bedeutet auch, dass bei der Bewerbung barrierefreier Angebote nicht die Barrierefreiheit an sich im Vordergrund steht, sondern wie überall das Angebot selbst, das allen Lust auf einen Besuch macht. Informationen zur Barrierefreiheit sollten lediglich als besonderer Servicehinweise gesehen werden. Dies ist nicht nur vor dem Hintergrund der Inklusion geboten. Es steht auch fest:
Barrierefreiheit allein ist kein Reiseanlass. Sie ist lediglich ein Qualitätsmerkmal, das den Ausschlag für ein bestimmtes Hotel, eine bestimmte Freizeiteinrichtung oder ein bestimmtes Restaurant geben kann.
Barrierefrei durch NRW: Reisen für Alle
Seit 2014 hat Tourismus NRW das Thema Barrierefreiheit verstärkt in den Fokus gerückt. In einem Anschubprojekt schulte der Verband zahlreiche Beschäftigte aus touristischen Betrieben und unterstützte die Unternehmen bei der Zertifizierung ihrer barrierefreien Angebote. Dafür schloss sich der Verband dem deutschlandweiten Zertifizierungsprojekt „Reisen für Alle“ an, welches vom Deutschen Seminar für Tourismus (DSFT) und Tourismus für Alle Deutschland (NatKo) entwickelt wurde. Die Zertifizierungen dieses Systems beruhen nicht auf Selbsteinschätzungen, sondern auf festgelegten Standards, sodass sich Nutzer auf die erhobenen Informationen zur Barrierefreiheit verlassen können. Im November 2019 waren rund 2.300 Betriebe bundesweit nach dem System zertifiziert, in NRW waren es rund 180.
Die in NRW geprüften Betriebe werden auf der Internetseite www.barrierefreies-nrw.de dargestellt – zum einen gebündelt, zum anderen aber auch mit besonderer Kennzeichnung innerhalb der unterschiedlichen Rubriken wie Kultur oder Natur. Zu jedem Betrieb finden sich dabei Informationen, mit Blick auf welche Bedürfnisse der jeweilige Betrieb geprüft wurde, etwa für sehbehinderte Menschen oder Rollstuhlfahrer, sowie die ausführlichen Ergebnisse dieser Prüfungen. Einen deutschlandweiten Überblick über geprüfte Betriebe liefert die Internetseite www.reisen-fuer-alle.de.
Reisen für Alle
- Wer seinen Betrieb ebenfalls nach den einheitlichen Standards des Systems „Reisen für Alle“ prüfen lassen möchte, kann sich an Tourismus NRW wenden, der das Thema in Nordrhein-Westfalen federführend betreut. Ansprechpartnerin ist Linn Bach (bach@nrw-tourismus.de, 0211/91320557)
Inzwischen wird das Barrierefrei-Projekt von Tourismus NRW als Kernaufgabe des Verbands fortgeführt und in unterschiedlichen Bereichen mitgedacht. So gibt es etwa in der landesweiten touristischen Innovationswerkstatt, einem aktuellen EFRE-Projekt, spezielle Schulungen zum Thema Barrierefreiheit. Schon fast vier Jahre alt, aber immer noch aktuell ist der Praktikerleitfaden des Tourismus NRW, der Betrieben Informationen und konkrete Hilfestellungen bei der Entwicklung barrierefreier Angebote gibt.
Barrierefreie Best-Practice-Beispiele aus Nordrhein-Westfalen
Viele Städte, Einrichtungen und andere Anbieter haben inzwischen barrierefreie Angebote geschaffen, sei es durch bauliche Veränderungen etwa in Hotels und Museen, durch einen entsprechend ausgestatteten öffentlichen Personennahverkehr oder durch spezielle Dienstleistungen wie Führungen in Gebärdensprache. Einige besondere Angebote hat Tourismus NRW hier zusammengestellt.
Naturangebote
Städtische Angebote
Aktivangebote
Kulturangebote
Sonstige Angebote
Blick über den Tellerrand: So machen es andere
Auch außerhalb von NRW gibt es viele Best-Practice-Beispiele. Teilweise sind es sogar nur kleine Angebote, die jedoch eine große Wirkung entfalten können.
Digitale Services
Analoge Services
Sonstige Angebote
Kleine Hilfen, einfach umsetzbar
Nicht immer sind große Umbauten oder komplette Neuplanungen nötig, um Barrieren abzubauen. Vieles lässt sich auch ohne großen Aufwand und mit geringen Kosten umsetzen. Voraussetzung ist jedoch ein Bewusstsein und eine Sensibilisierung für Problemfelder und mögliche Lösungen. Wir haben ein paar Ideen zusammengestellt, die jeder umsetzen kann.
Für eilige Leser: Zusammenfassung in sieben Thesen:
© NatKo
Textversion zum Download
Wer sich die Inhalte des Trendmagazins herunterladen möchte, findet hier eine noch etwas ausführlichere pdf-Version des Textes zum Download.
Nächstes Thema
Das nächste Trendmagazin wird sich dem Thema Pop-up-Tourismus widmen.
Redaktion dieser Ausgabe:
Tonia Haag
Technische Umsetzung:
Hannah Förster
Stand: Juli 2018
Aktualisierung: November 2019